Sehnsucht nach Geborgenheit

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Ein Beitrag aus Band 1 der gelben Zeitzeugen-des-Alltags-Buchreihe von Jürgen Ruszkowski

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Michael Mario Hoffmann wurde 1947 in Zwickau in Sachsen von Hildegard Beyer, geborene Hoffmann, in der Ehe mit dem Ziegeleifabrikanten Karl Eduard Beyer geboren. Die Mutter war Tänzerin am Zwickauer Stadttheater gewesen und hatte offenbar mit russischen Besatzungssoldaten poussiert. Der Ehemann focht daher die Vaterschaft an und ließ ein erbbiologisches Gutachten erstellen, so dass Michael den Mädchennamen der Mutter erhielt. „Meine Mutter kümmerte sich nicht um mich und gab mich im Alter von sechs Wochen an eine Freundin, bei der ich verwanzte und verlauste. Ich kam dann in ein Kinderheim, aber bald darauf im Alter von sechs Monaten zu Pflegeeltern.“ Solche frühkindlichen, tiefgreifenden Einschnitte führen meistens zu starken Verlustängsten bis hin zu Hospitalismus mit Folgen für das ganze Leben. Auch Michael scheint darunter stark gelitten zu haben, so dass wesentliche Verhaltensmuster im späteren Leben hier ihre Ursachen zu haben scheinen.

Der Pflegefamilie waren bei Kriegsende eigene Zwillinge verhungert. „Dafür war ich eine Art Ersatz.“ Sie gehörten zur Freikirche der Methodisten. Michael besuchte später die methodistische Sonntagsschule und wurde von den christlich-konservativen Pflegeeltern von den kommunistischen Jungen Pionieren ferngehalten. „Als sie später einen eigenen Sohn bekamen, war ich für den Pflegevater das fünfte Rad am Wagen. Die Pflegemutter hat mich jedoch geliebt. Meine leibliche Mutter wanderte etwa 1950 mit zwei Töchtern, meinen Halbschwestern, nach Amerika aus. 1957, als ich zehn Jahre alt war, gingen meine Pflegeeltern nach Westdeutschland und fragten mich, ob ich mitgehen wolle, was ich natürlich tat, denn ich brauchte ja in diesem Alter dringend die Geborgenheit in dieser Familie.

Wir lebten in den Flüchtlingsdurchgangslagern in Lübeck-Blankensee und Gießen in recht primitiven Verhältnissen und schliefen auf dem Fußboden auf Strohsäcken. So würde man heute Asylbewerber nicht mehr unterbringen. Schließlich fanden wir in Grevenbrück im Sauerland zwischen Hagen und Siegen eine neue Heimat. Ich besuchte neun Jahre lang die Volks- und drei Jahre die Berufsschule. Eine begonnene Lehre als Maschinenschlosser brach ich nach neun Monaten ab, als ich im Alter von 14 Jahren das erste Mal von zu Hause abhaute. Meine Pflegeeltern konnten mir vom Intellekt her nicht das bieten, was ich suchte. Ich strebte schon immer in die Ferne und träumte von der weiten Welt. Auch hatte ich früh einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Die christlich-freikirchliche Einstellung der Pflegeeltern trug wohl zu meiner späteren humanistischen Gesinnung bei.

Mit 14 wollte ich in die DDR zurück, wurde aber an der Zonengrenze abgefangen und kam anschließend für drei Monate in das in der Senne südlich von Bielefeld gelegenen Erziehungsheim Eckhartsheim der Betheler Anstalten. Danach fand ich wieder Aufnahme bei meinen Pflegeeltern in Grevenbrück und arbeitete fortan als Maschinenarbeiter bei meiner früheren Lehrfirma. Meine Arbeitgeber waren mit mir in puncto Fleiß und Pünktlichkeit zufrieden, wenn ich auch von Zeit zu Zeit immer wieder in Extratouren ausbrach. Ich fühlte mich oft unverstanden, war innerlich nicht gefestigt und hatte noch kein Ziel für das Leben vor Augen. Später bin ich dann noch mal zusammen mit drei anderen „Halbstarken“ in Richtung Schweiz abgehauen. Wir kamen aber nicht über die Grenze, weil wir keinen Personalausweis besaßen. Bei Bregenz schlugen wir uns illegal nach Österreich durch: Die Freunde schwammen ein Stück durch den Bodensee, ich schlich durch ein Waldstück, weil ich nicht schwimmen konnte. Auf österreichischer Seite trafen wir wieder zueinander. Auf einer Alm schliefen wir im Farnkraut. Aber bald spürte uns die Gendarmerie auf und brachte uns zurück nach Deutschland, wo wir in Lindau in einer Jugendschutzstelle in eine Zelle gesperrt wurden, bis uns der Vater zweier der Freunde namens Achim und Helmut, ein begüterter Architekt, abholte. Die Freunde waren bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und hatten Bekanntschaft mit Jugendarrest gemacht. Wenn ich auch oft schlechte Gesellschaft hatte, habe ich mich nie an ungesetzmäßigen Handlungen beteiligt. Ich konnte anschließend weiterhin bei meiner Firma in Siegen arbeiten.

Im Alter von 17 Jahren versuchte ich noch einmal in die DDR zu kommen. Im Westen war ich gegen die Aufrüstung, dort im Osten wollte ich jedoch Offizier der Volksarmee werden. Vier Wochen lebte ich in einem Lager in Barby an der Elbe. Viele dieser Übersiedler von West nach Ost flüchteten vor ihren Schulden, die sie gemacht hatten. Nicht alle waren daher in der DDR willkommen. Ich sah immer bedeutend jünger aus, als ich war. Stasileute beobachteten und verhörten mich. Sie konnten mit so versponnenen Halbgaren wie mich wohl nichts anfangen und meinten, es sei wichtig, dass die „Bonner Ultras“ keine Gelegenheit bekämen, zu behaupten, die DDR halte Jugendliche aus dem Westen fest. Deshalb müsse ich zurück in die BRD. Dort brachte man mich in eines der Freistädter Erziehungsheime im Wietingsmoor zwischen Diepholz und Sulingen, wo ich zwei Jahre lang blieb. Für mich war das Erziehungsheim damals Schutz. Ich wäre sonst wohl leicht in schlechte Hände geraten. Insofern bin ich heute auch dafür, straffälligen jugendlichen Rückfalltätern geschlossene Heimerziehung als festen Rahmen zu bieten.

Ich wollte nicht wieder zu den Pflegeeltern, sondern mein Leben selber meistern. Für sechs Monate lebte ich in Neuenrade in Westfalen in einem Lehrlingsheim. Anschließend ging ich dann doch zu den Pflegeeltern zurück und arbeitete als Bauhelfer im Hochbau.

Schon früh fühlte ich mich zu linken Ideen und Gruppen hingezogen und beteiligte mich an Kampagnen gegen die Aufrüstung und an den Ostermärschen. Ich hatte mir eine Ideologie zwischen praktischem Christentum und Sozialismus zurechtgelegt, der ich nachstrebte. 1968 trat ich in die DKP ein. Die Partei war mir wohl auch eine Art Mutterersatz. Ich war ein eifriger Parteigenosse, bis mir anlässlich des kalten Einmarsches der Warschauer-Pakt-Streikräfte in Prag erhebliche Bedenken kamen. 1974 trat ich dann aus der Partei aus.

1967 lernte ich ein Mädchen kennen. Es folgte der erste große Liebeskummer, der mich wieder aus der Balance warf. In mir war immer so eine innere Unruhe, eine Urangst. Ich habe mich dann schnell fallen lassen. Ich wollte am liebsten auswandern. Auch jetzt überlegte ich wieder abzuhauen und zwar nach Genua, von wo ich mich nach Palästina einschiffen wollte, um mich als Al-Fatach-Helfer anzubieten. Aber daraus wurde nichts. Ich bin dann mit der Freundin nach München gefahren. Wir lebten dort eine Woche lang, bis mir das Geld ausging. 1969 habe ich diese Frau geheiratet, obwohl ich wusste, dass das nicht gut gehen konnte, weil wir überhaupt nicht zusammen passten. Sie war hysterisch. Aber mit ihr habe ich drei Kinder gezeugt: Simone, Sascha und Natascha. Die russischen Namen habe ich ausgewählt. Ich war damals so ein Russenfan, wahrscheinlich, weil ich mehr oder weniger unbewusst einen Russen als meinen Vater vermutete, aber auch, weil ich als Kleinkind intensiven Kontakt mit russischen Soldaten gehabt und man mich deshalb scherzhaft „Stalin“ oder „Väterchen Frost“ genannt hatte. Sascha hat sich später mal bitter darüber bei mir beklagt: Ein russischer Name wäre ja noch zu ertragen, aber als zweiten Namen auch noch Michail! Ob das hätte sein müssen?

1970 reizte mich ein Angebot bei der Labor Service Guard der US-Army in Westberlin, wo man Wachleute suchte. Ich hatte immer ein zwiespältiges Verhältnis zu allem Militärischen. Einerseits faszinierte es mich, andererseits lehnte ich es ab. Ich flog nach Berlin und ließ mich für den Dienst ausbilden. Dort hätte ich die Chance gehabt, Führerscheine aller Klassen zu erwerben. Es scheiterte letztlich daran, dass ich die US-Militär-Haarschnitt-Vorschriften nicht für mich akzeptieren wollte. Ich trug seinerzeit lange Koteletten und lange Haare. Davon wollte ich mich nicht trennen und unterschrieb deshalb nach der dreimonatigen Probe- und Ausbildungszeit nicht den endgültigen Vertrag. Als ich nach Hause zurückkam, hatte sich meine Frau mit einem Nachbarn eingelassen und meinte, ich störe ihr neues, glückliches Sexualleben.

1971 verkaufte ich meine Stereoanlage, um davon eine Fahrkarte nach Cuxhaven zu finanzieren, wo ich mich bei der Hochseefischerei verdingen wollte. Nach sechswöchiger Ausbildung in den Netzbooten stieg ich in Bremerhaven als Leichtmatrose auf dem Fischereimotorschiff „Hildesheim“ ein und blieb vier Monate an Bord. Das war der Beginn meiner Zeit bei der Seefahrt, die mich erst nach Jahrzehnten und nur deshalb losließ, weil ich dort keinen Job mehr bekam, von dem ich leben konnte. Bei der Fischerei galt es hart zu arbeiten, habe aber schönes Geld gemacht. Was ich an Bord des Fischdampfers lernte, waren alle Schnacks der Kollegen, besonders den: „Du musst dir mal öfter einen ballern!“ So machte ich hier intensive Bekanntschaft mit „Freund Alkohol“. Man füllte mich manches Mal so richtig ab. Die norwegische Küste bekam ich jedoch nur von See aus von ferne zu sehen. Zu gerne hätte ich auch die Häfen und Menschen und deren Kultur kennen gelernt. Die Kollegen meinten, da müsse ich dann eben auf einem Kümo anheuern. So musterte ich am Ende der Reise in Cuxhaven ab, nahm an einem Schiffssicherheitslehrgang teil und man bot mir einen Job auf einem Schiff bei der Reederei Bauer & Hauschild an. Danach fuhr ich als Reiniger auf der unter Panama-Flagge fahrenden „Elisabeth Oldendorff“ der Reederei Egon Oldendorff. Der Trip war gut. Es ging in die Karibik und nach Südamerika. Ich bekam aber nur eine Heuer von 600 DM brutto = netto und für die Überstunde 3,- DM. Ich blieb lediglich für eine Reise an Bord. In Amsterdam war ich stramm besoffen. Mein Verstand war weg. Ich hatte totalen Kontrollverlust, kriegte anschließend meinen Moralischen, wollte meine Kinder in Siegen sehen und setzte mich in den Zug nach Hause. Unterwegs lernte ich in der Bahn eine Frau kennen, stieg in Emmerich aus und ging mit ihr in ein Hotel. Anschließend war mein Personalausweis weg. Der Grenzschutz hielt mich fest. Man recherchierte meine Identität und ich bekam provisorische Papiere. Mit einem Tag Verspätung traf ich wieder an Bord ein. Bei Dienstbeginn war ich nicht arbeitsfähig und kriegte den Sack. Am nächsten Morgen erwachte ich im Gebüsch mit zwei schwedischen Mädchen in einem Park. Es war die Hippizeit. Im Vollrausch hatte ich stundenlang auf meinem rechten Arm gelegen. Die Nerven waren wie abgeschnürt. Ich hatte den Unterarm nicht mehr in der Gewalt. Er hing schlaff herunter, eine sogenannte Häschenhand. Man brachte mich in ein Obdachlosenasyl. Das wurde von den Holländern in einem recht sauberen Zustand gehalten. Mit meinem defekten Arm war ich arbeitsunfähig und fuhr deshalb wieder zu meinen Pflegeeltern ins Sauerland, für die ich inzwischen jedoch zu einer Schande geworden war. Ich war Sympathisant linker Gruppen und traf an einem Bücherstand auf der Straße eine Maoisten-Vereinigung, die nach langer und gründlicher Diskussion feierlich darüber abstimmte, dass man mich in ihre Wohngemeinschaft aufzunehmen bereit sei. Damals habe ich das auch alles sehr wichtig genommen. Heute kann ich darüber nur lachen. Das Sozialamt in Siegen half mir über die Runde. Ich bekam Gutscheine für Lebensmittel, mit denen ich in einem bestimmten Laden einkaufen konnte. Nach drei Monaten war mein Arm auskuriert und ich konnte wieder nach Hamburg reisen, um mir ein neues Schiff zu suchen. Ich musterte auf der "ESTEBOGEN" der Reederei Bauer & Hauschild an und war in der Ostseefahrt tätig.

Es war im Jahre 1972. Wir lagen in Hartlepool und besuchten den Pup „Devon“, der allen Seeleuten ein Begriff ist. An Bord hatten wir bereits vorgetrunken, damit es an Land nicht so teuer werden sollte. In England gehen auch viele Frauen in die Kneipen. Man trifft also durchaus nicht nur Nutten dort. Ein Kollege geriet in einen Streit, der in eine Schlägerei ausartete. Ich wollte ihm helfen. Auch einige der Frauen prügelten auf mich ein und ich zog mir dabei eine Nasenfraktur zu, die leider nicht richtig behandelt wurde, so dass man die Folgen heute noch bei mir sehen kann. Der Alte war nicht begeistert, als er mich nach Rückkehr an Bord sah. Ich konnte nicht richtig arbeiten, weil ich dauernd aus der Nase blutete. Im nächsten Hafen, es war Newcastle, ging ich von Bord, um mich ärztlich behandeln zu lassen. Ich bekam vom Agenten ein Flugticket nach Hamburg. Die Kosten, auch für den Ersatzmann, wurden mir von meiner Heuer einbehalten. Danach flüchtete ich mich wieder in die mir vertraute Wohngemeinschaft nach Siegen. Ich war immer stark fixiert auf Kollegen oder auf ein Schiff. Davon komme ich dann nicht los. Ein Jahr lang habe ich in Siegen gearbeitet. Viel Geld blieb mir nicht vom meinem Verdienst, denn durch den von mir für drei Kinder zu zahlenden Unterhalt ging der größte Teil meines Einkommens drauf. Mir wurden jetzt auch beim täglichen Zusammenleben die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis bei den Mitgliedern der WG-Kommune bewusst. In dieser Zeit landete ich in einer Saufclique von Stadtstreichern. Ich fand die spaßig und habe mitgetrunken. Da ich ohnehin recht labil war, neigte ich dem Alkohol immer mehr zu. Als mir das bewußt wurde, rief ich eines Tages bei der Reederei Oldendorff an, um nach den Chancen für ein Schiff zu fragen. Die spontane Rückfrage: „Haben Sie Lust, sofort auf einem Bulkcarrier einzusteigen?“, kam mir gerade recht. Es hieß, das Schiff, es war die „Christopher Oldendorff“, liege in Hamburg an der Töpfer-Pier und warte noch auf Order. Ich fuhr sofort nach Hamburg und bereits am nächsten Tag liefen wir ohne Zwischenstop nach Port Elisabeth und Durban in Südafrika aus. Ich hatte als Decksmann angeheuert und war unterwegs an Bord als Messesteward umgemustert worden. Während der ersten Reise ging alles gut, aber während der zweiten Reise versackte ich in Port Elisabeth. Ich hatte eine Schwarze kennen gelernt und verpasste beim Landgang die Abfahrt des Schiffes. Alle meine Sachen waren an Bord: Kleidung und Papiere. Das Schiff war mit einer Ladung Erz unterwegs in Richtung Dünkirchen. Es stellte sich heraus, dass der Kapitän meinen Pass an den Agenten übergeben hatte. Das war meine Rettung. Die Agentur John T. Traevels brachte mich in einem Hotel unter und bezahlte für drei Tage Unterkunft und Essen für mich. Danach wurde ich nach Durban geflogen und sollte auf die „Maria Oldendorff“ umsteigen, die in den Persischen Golf nach Iran gehen sollte. Die iranischen Häfen waren mir von Kollegen als wenig verlockend geschildert worden. Dort sollte es nicht einmal Bier zu trinken geben. Ich steigerte mich in negative Gefühle und geriet in eine tiefe Krise, fing wieder an zu saufen und ging nicht an Bord. Da ich nun illegal im Lande war, steckte man mich ins Zentralgefängnis von Durban, wo ich eine Woche lang weilte. Ich besitze heute noch die Zellenkarte. Viele Seeleute haben durch das „Achternraussegeln“ im Ausland Bekanntschaft mit dem Knast gemacht. Dann bekam ich vom deutschen Konsulat ein Flugticket nach Hamburg. Ich war mittellos. Die Innere Mission brachte mich in einem Wohnheim für Obdachlose in St. Georg unter. Von der Sozi in der ABC-Straße erhielt ich eine Fahrkarte nach Siegen, wo ich wieder in der bekannten WG Aufnahme fand. Bei meinen Sauftypen prahlte ich damit, in Südafrika im Knast gesessen zu haben und galt bei denen daraufhin als Exot. Ich habe mit den alten Kumpels von der Straße wieder rumgezaubert. Die heckten auch öfter ungesetzliche Sachen aus, aber da habe ich mich immer herausgehalten. Also etwas Solidität muss doch in mir gesteckt haben.

1976 fuhr ich bei Shell auf dem Tankschiff „Myrina“. Als ich 1977 gerade im Seemannsheim am Krayenkamp weilte, sprach mich der Pförtner Schmidt an, ob ich bereit sei, auf der „Main-Express“ einzusteigen, einem Hapag-Schiff , das von Ahrenkiel bereedert wurde. Man brauchte wohl schnell einen Ersatzmann und hatte im Seemannsheim angerufen. So kam ich sogar auf ein Hapag-Schiff, das damals noch mit schwarz-weiß-rot am Schornstein fuhr.

1978 arbeitete ich bei Ahrenkiel auf der "ALASKA" als zweiter Steward. Wir lagen in Buenos Aires. Dort hielt die Militärjunta ein strenges Regiment. Weil ich im Alkoholrausch nachts trotz Polizeistunde und Ausgangssperre auf der Straße getanzt hatte, nahm man mich fest und sperrte mich für eine Nacht in eine Zelle, in der schon 20 Mann auf dem Fußboden saßen. Etwas später kam noch ein Maschinist meines Schiffes dazu. Alle paar Stunden wurden wir zum Pinkeln und Wassertrinken herausgeführt.

Bei Harald Schuldt war ich 1979 vier Monate auf der "ASSEBURG", einem Kühlschiff. Ich stieg in Hamburg auf der Howaldswerft zu. Im Mai 1979 musterte ich bei der Reederei Wübbe auf der „Reefer Carrier“ unter Zypern-Flagge an.

Von 1980 bis 1983 arbeitete ich als Bauhelfer im Akkord in Tornesch und verdiente gut. Dann bekam ich wieder Lust, zur See zu fahren und stieg in Hamburg als Decksmann auf dem Stückgutschiff "LÜHE" der Reederei Helmut Baumgarten aus Gründeich ein. Wir fuhren nach Nigeria - Westküste-Afrika. Am Getreideschuppen der Rolandsmühle in Bremen ging ich nach vier Monaten wieder von Bord. Ab Juni 1983 fuhr ich für sechs Monate als Decksmann von Rotterdam aus auf dem Containerschiff „Katania“ bei Reederei Günter Schulz. Von Ende 1983 bis September 1984 war ich arbeitslos. Im Herbst 1984 stieg ich für 660 US$ in Bremerhaven bei Dietrich Oldendorff unter Liberia-Flagge auf dem Bulkcarrier "WESTERN GLORYein. In Ballast ging es nach Brasilien. Im Sommer 1986 jobbte ich auf dem Hamburger Blumengroßmarkt als Ladearbeiter. Anfang 1989 arbeitete ich für drei Monate in der Kleinen Fahrt auf MS „AROS TRADER“ bei Julius Hauschild und Mitte Mai 89 einen Monat lang auf MS „HELENA“. Wegen eines Unfalls mußte ich von Bord. Im Sommer 89 war ich auf „Monika Ehler“ von Papenburg aus für drei Monate in der Holzfahrt tätig. 1992 stieg ich für fünf Monate in Rochefort in Frankreich als Decksmann bei der in der Kleinen Fahrt verkehrenden „Petra Fischer“ ein. Danach war ich wieder auf dem Blumengroßmarkt tätig.

So ist mein Leben monate- und jahrelang dahingegangen. Ich habe meine Zeit nicht genutzt. Mit meinem Intellekt hätte ich ein Patent machen können.

In den 1980er Jahren bekam man noch leicht ein Schiff mit guter Heuer. Der Tarif wurde immer besser. Es gab Auslandszulage und 12½ Tage Urlaub pro Monat. Man bot mir kürzlich ein Schiff unter deutscher Flagge mit Holzdeckeln und schwerer Arbeit an sieben Tagen in der Woche für 1.400 Mark netto inklusive aller Überstunden und zwei Tagen Urlaub an. Heute würde ich mir alle Finger nach den damaligen Bedingungen lecken. Bei derartigen Offerten würde ich jetzt zehn Meter hoch springen. Uns ging’s damals vielleicht zu gut. Öfter hatte ich gute Heuerscheine, verpatzte mir die Gelegenheiten aber durch den Suff und stieg dann gar nicht ein. Mehrfach segelte ich achtern raus. Manchmal hat man die Reeder als Seemann ganz schön hingehalten. Ich übe da schon Selbstkritik. Der Alkohol hat viele Macken in meinem Leben verschuldet. Solange ich bei einer Frau lebte, ging es gut. Immer, wenn ich keine sozialen Bindungen hatte, wenn ich aus dem Nest fiel, griff ich nach der Flasche. Der Wunsch nach einem abstinenten Leben muss aus dem Bewusstsein kommen: Du willst nicht mehr trinken. Ich schloss mich Selbsthilfegruppen an. In Hamburg-Rissen gehörte ich längere Zeit zu einer ELAS-Gruppe, die ein engagierter Mann führte und uns in der Gruppe Halt gab. In der Zeit habe ich gejoggt und war schon fast marathonreif.

Vor zwei Jahren war ich noch auf der MS "EUROPA" im Bereich Küche-Bedienung tätig. Es war ein harter Job. Ich hatte Vorbereitungsarbeiten zu leisten oder stand am Band und mußte die Teller darauf werfen. Ständig wurde man angetrieben. Mit zwei Mann hatten wir 1800 qm Boden zu saugen. In meinem Alter machen sich jetzt auch langsam die ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen bemerkbar: Arthrose am Knie und Knorpelabrieb. Wenn ich gelernter Kellner wäre, könnte ich heute sogar wieder einen Bordjob als Steward bekommen. Deutsche Stewards mit Facherfahrung haben auf Schiffen mit Passagieren wieder Chancen. Aber es wird auch Profikönnen verlangt. Das traue ich mir nicht zu. Eine Umschulung wird in meinem Alter vom Arbeitsamt nicht mehr finanziert, weil ich keine Einstellungsgarantie beibringen kann. Kürzlich hatte ich einen Saisonjob als Haus- und Küchenhelfer in einem Erholungsheim auf Sylt.

Schon vor meiner Seefahrtszeit hatte ich als junger Bursche kurze Reisen nach Paris, Amsterdam, Brüssel, Lüttich und Hamburg unternommen. Meistens trampte ich und übernachtete in Jugendherbergen. In den 1980er und 90er Jahren gab es bei den Reisen auf Containerschiffen kaum noch Liegezeiten. Man bekam bei der Seefahrt nichts mehr von der Welt zu sehen. So habe ich mehrere große Reisen als Tourist gemacht, dafür lange gespart und mir nichts gegönnt, wollte nur reisen. 1981 flog ich mit Laker für 700 Mark von London-Heathrow mit der Britisch Airways nach Miami. Eigentlich war Honduras mein Ziel. Aber am Flugschalter in Miami las ich plötzlich den Ortsnamen Managua. Spontan entschloss ich mich, nach Nicaragua weiterzufliegen, um mir persönlich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Sandinisten nach dem Sturz Somozas die Errungenschaften des Sozialismus verwirklicht hatten. Es wurde eine Chaotenreise. Ich sprach nicht spanisch. Es war viel zu gefährlich, draußen zu schlafen. Wegen der Aktivitäten der Contras konnte man nicht durch das Land reisen. Nach einer Woche in Managua flog ich in die USA zurück und fuhr mit dem Greyhound-Bus vier Wochen durch Florida. Als Rucksack-Tourist machte ich 1986 mit der Air Cubana einen sehr schönen Zweimonatstrip nach Costa-Rica. Auf dem Flughafen von Havanna saß ich jedoch bei Hitze und Durst 16 Stunden fest. Es war kein Visum für Kuba, das ich gerne kennen gelernt hätte, zu bekommen. Über Panama fuhr ich auf dem Landweg nach San Jose und von dort mit der Bananeneisenbahn an die karibische Küste nach Puerto Vejo. Den Rückweg nach Europa wollte ich von Puerto Limon aus als Überarbeiter machen. An der Pier fiel mir ein blonder junger Mann auf, der mir deutsch auszusehen schien. Tatsächlich war es ein Tourist, der einen Südamerika-Trip hinter sich hatte. Zusammen mit dem verdingte ich mich auf der unter Liberia-Flagge fahrenden "HORN-CAP" bei deren deutschem Kapitän und fuhr ohne Versicherung und ohne Heuer mit einer überwiegend burmesischen Mannschaft nach Hause. Es wurde an Bord burmesisch gekocht. Das Essen war manchmal so scharf gewürzt, dass man es nicht runterkriegen konnte.

Fünfmal flog ich nach Australien. Den Mauerfall in Berlin erlebte ich 1989 in Sydney. Man kann im Vergnügungsviertel Kings Cross in der Nähe der Victoria-Street günstig für 10 bis 20 $ übernachten, in Mehrbettzimmern mit anderen zusammen oder auch in singularrooms. Eine Woche lang fuhr ich mit einem Deutsch-Kanadier, den ich dort kennen gelernt hatte, in dessen VW-Bus mit Wasserbett von Katoomba 100 km durch das Land zu den Blue Mountins. Der Mann trank mir aber zu viel und wegen eines Mädchens, das noch dabei war, gab es Eifersüchteleien, so dass ich mich dann von ihm trennte, nach Sydney zurückkehre und noch vier Wochen in dieser faszinierenden großflächigen Stadt blieb. Eigentlich wollte ich nach Kiribas. Es klappte jedoch nicht mit dem Visum. In einem indischen Reisebüro bekam ich ein billiges Flugticket über Aukland / Neu Seeland, Fidschi, Tonga und Hawai nach Los Angeles, bei dem ich die Reise unterbrechen konnte. Der Höhepunkt meiner Tour war dann der Aufenthalt in Tonga. Dort lebte ich zunächst unter primitiven Verhältnissen bei einer einheimischen Familie, bis ich in ein Gästehaus umzog, das von zwei Deutschen, Boris und Heidi, geführt wurde. Es leben dort etliche Deutsche, sowohl kleinere und größere Unternehmer, als auch etliche Beachcomber, die ihr Leben unter der südlichen Sonne mit Kartenspiel und Trinken verbringen. Der König von Tonga, ein wohlbeleibter Mann, ist Bismarck- und Deutschland-Verehrer. Durch deutsche Entwicklungshilfe wurde dort auch eine Seefahrtschule aufgebaut. Ich traf einen Österreicher, der mich 14 Tage lang auf seiner Segelyacht mit durch die Inselwelt nahm. Zum Schluss hatte ich mich noch in Nukualofa bis über beide Ohren in eine Chinesin verliebt. Dort und auch sonst überall in der Welt trifft man auf Chinesen und Inder, die meistens sehr geschäftstüchtig sind und oft die wirtschaftliche Elite bilden. Gerne wäre ich an diesem schönen Fleck der Erde noch länger geblieben, aber meine bescheidenen Geldvorräte wurden immer knapper und mein Flugticket war zeitlich begrenzt. Wenn ich heute fünf Riesen hätte, würde ich nach Tonga gehen und mich dort selbständig machen. Mit wenig Geld und Fleiß kann man da etwas schaffen.

1992 war ich noch einmal mit einer Freundin zusammen in Queensland und Brisbane. Wir hatten uns einen Camper-Van gemietet und waren damit bis Cains gefahren. Da der Vater dieser Freundin verunglückt war, mussten wir die Reise vorzeitig abbrechen

Vor einigen Jahren entdeckte ich die alte Musik für mich. Ein Bekannter hatte mich zu einem Orgelkonzert in den Hamburger Michel eingeladen. Seither fasziniert mich Johann Sebastian Bach. Aber auch für Verdi, Puccini und Mozart kann ich mich begeistern. Das hätte ich mir früher nie träumen lassen.

Ich lebe seit vier Jahren mietfrei bei einer gutsituierten älteren Witwe in deren Haus in der Nähe von Hamburg. Hier fand ich meinen ruhenden Pool und Geborgenheit. Mit der Frau zusammen unternahm ich vor vier Jahren auch noch einmal eine Reise nach Australien. Für acht Tage machten wir eine Flussfahrt mit einem alten Raddampfer auf dem Murray-River, waren die einzigen Deutschen an Bord und lernten interessante Leute kennen. Ab und zu besuche ich einen Seemannskollegen, mit dem ich früher zusammen auf einem Schiff war. Heute brauche ich keine Säufereskapaden mehr und führe ein ruhiges, bürgerliches Leben.“


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